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Abb. 1: Das Geburtstagsgeschenk (Ayyub, 10 Jahre)

Ausdrucksmalen - prozessorientierte ästhetische Bildung in der Schule

Ausdrucksmalen ist ein prozessorientiertes Malen, das alle Sinne anspricht und das  Kindern einen  Raum gibt, sich schöpferisch zu erleben. Sie malen mit den Händen oder Pinseln mit Gouachefarben. Dies geschieht im Stehen an Malwänden auf großformatigen Papieren -  ohne Themenvorgabe oder Zielsetzungen. In diesem wertungsfreien Raum gewinnt das Kind Zugang zu seinem inneren Reichtum an Formen, Farben und Bildern. Es gibt kein Richtig oder Falsch, Hässlich oder Schön. Vor allem geht es darum, sich auf die Geschichte einzulassen, die allmählich beim Malen entsteht. Das malende Kind wird dadurch zum Erzähler seiner persönlichen Geschichten. Das passiert tatsächlich dann, wenn es selbstbestimmt im eigenen kreativen Handeln zur Ruhe kommt. In solchen Momenten ist es ganz bei sich. In dieser konzentrierten Atmosphäre wird das selbst erschaffene Bild zum Botschafter der Befindlichkeit des Kindes, seines aktuellen Themas und kann als sichtbar gewordener Ausdruck des Bewussten und des Unbewussten, angesehen werden.

Entwicklungschancen im Einzelnen

Mit dieser Malweise wird das Selbstbewusstsein der Kinder gefördert,  Hemmungen oder Blockaden werden abgebaut. Durch den hohen emotionalen Gehalt der Bilder werden sprachgehemmte Kinder angeregt, sich präsentativ mitzuteilen. Denn das nonverbale Tun erleichtert es, die Sprachbarriere zu überwinden. Geschaffene Bilder ermöglichen den Kontakt zur eigenen Gefühlswelt und bieten somit eine individuelle Hilfe zur Versprachlichung emotionaler Inhalte, wenn das Kind seinen Malprozess und das entstandene Bild beschreibt. Es entwickeln sich Geschichten, die es  erzählen und manchmal sogar aufschreiben möchte. Ein persönliches Maltagebuch sollte als Option stets bereitliegen. So wird die Sprachkompetenz scheinbar beiläufig gefördert, unabhängig von besonderen Erschwernissen wie Mutismus, Autismus, oder einer Sprache als Zweiterwerb bei Kindern mit Migrationshintergrund.  

Ausdrucksmalen weckt Kreativität und Fantasie, fördert das kindliche  Vorstellungsvermögen, das räumliche Denken, das Gestaltungsvermögen und den Mut zur individuellen Ausdrucksweise. Durch die Darstellung seiner Wahrnehmungen im Bild erhält das Kind die Möglichkeit, seinen Erfahrungen und Erlebnissen, die oft im Bereich des Sprachlosen liegen, Gestalt zu geben. Dadurch wird es in der Entwicklung seiner Persönlichkeit unterstützt. Die für das Ausdrucksmalen empfohlene Arbeit in der Kleingruppe fördert zudem Rücksichtnahme und Toleranz - obwohl jedes Kind in seinem eigenen Malprozess bleibt, und die Kommunikation untereinander  darauf beschränkt ist.

Abb. 2: Sonnenstrahlen wärmen mich (Jasmina, 9 Jahre)

Voraussetzung ist die vorbereitete Umgebung

Ausdrucksmalen braucht wenige Mittel. Benötigt wird ein Atelier, das nach dem Prinzip „geschützter Raum“ ausschließlich für das Ausdrucksmalen genutzt wird – dies kann z.B. ein kleiner, bisher ungenutzter Raum in der Schule sein. Die Kinder stehen an der Wand, vor einem weißen Blatt (Klasse 1-2: 70 x50 cm; ab 3. Klasse: 100 x 70 cm). Wie ihr Blatt hängen soll, ob Hoch- oder Querformat, entscheiden sie selbst. Auf der „Farbinsel“, i.e. der  Maltisch, stehen die  Farben des ganzen Farbspektrums. Die verwendeten Gouachefarben sind für spontane Improvisationen geeignet: Sie trocknen schnell auf, sind mit Wasser verdünnbar, zudem gut mischbar und jederzeit wasserlöslich. Bereit liegen darüber hinaus Malwerkzeug wie Rund- und Flachpinsel, Schwämme, Rollen, Malmesser, Spachteln, Sprühflaschen für Wasser und Glasschälchen für die Farben. An die Wände sind Weichfaserplatten montiert,  damit das Papier direkt mit Reißnägeln angeheftet werden kann.

 

Technik

Zunächst sind keine Vorkenntnisse nötig. Maltechnische Probleme werden durch die Freude am Experimentieren und Üben gelöst. Zu Beginn wird das Blatt mit den Händen eingekleistert. Wesentliches Moment ist das Übermalen. Die Aussage des Bildes kann durch Übermalen solange verändert werden, bis das Kind mit seinem Bild zufrieden ist. Das Bild darf auch während des Malprozesses vom Format her wachsen, d.h. größer werden. Dafür steht eine Trittleiter bereit.

Bewertung und Lob als Hindernis

Die Bilder werden weder positiv noch negativ bewertet. Es wird nicht  interpretiert oder analysiert. Durch das Malen merkt das Kind selbst, wie stark es im Leistungssystem verhaftet ist: „Kann ich nicht…“, „Hab keine Idee…“, „Mir fällt heute gar nichts ein…“. Die bunten Farben laden  es ein, sich seiner Unentschlossenheit zu stellen: Vielleicht hilft ja die Lieblingsfarbe, um mit dem Malen zu beginnen? In dem geschützten Raum kann das Kind seine Kreativität entdecken und lernen, zu seinen Stärken und Schwächen zu stehen. Besonders schwierige Hindernisse im Malprozess ermöglichen  eben auch besonders wertvolle Erfahrungen. Dadurch entsteht der Dialog mit dem Kind vor seinem Bild und der Malbegleiterin. Fragen wie: Was siehst du? Was erzählt dir das Bild? verhelfen dem Kind zu mehr Klarheit und Verantwortung für den eigenen Malprozess. Das gelingt durch eine präsente und einfühlsame Begleitung.

Abb. 3: Hauskatze (Alexander, 9 Jahre)

Die Rolle der Malbegleiterin

Die Aufgabe der Malbegleiterin hat zum einen eine dienende Funktion, indem z.B. Papier sowie Farben bereitgehalten werden, sodass die Kinder ungestört in ihrem Malprozess voranschreiten können. Zum anderen hilft die Malbegleitung, wenn Hilfe nötig ist und ermutigt, wo Zuspruch erforderlich ist. Sie ist da, wenn sie gebraucht wird und hält sich zurück, wenn das malende Kind eigene Wege finden muss. Es handelt sich um die Begleitung eines Prozesses des Suchens und Findens, des Festlegens und Verwerfens. Das erfordert Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen. Voraussetzung für diese respektvolle und wertfreie Haltung ist nicht nur eine entsprechende Ausbildung. Es ist wichtig, durch Selbsterfahrung die verschiedensten Aspekte der Malbegleitung kennenzulernen: Wenn ich das Begleiten lernen will, muss ich mich in meinem eigenen Malprozess selbst begleiten lassen.    

 

Entstehung des Ausdrucksmalens

Arno Stern (*1924) hat das Ausdrucksmalen in den 1950er-Jahren in Paris entwickelt. Fortgeführt wurde es von Bettina Egger (*1943) in Zürich. Sie ist bekannt durch zahlreiche Publikationen im kunst- und  heilpädagogischen Bereich.

Laurence Fotheringham (*1936) entwickelte das  Ausdrucksmalen weiter, indem er es mit wesentlichen Aspekten aus der Gestalt-therapie vertiefte. 40  Jahre lang bildete er Malbegleiterinnen und Malbegleiter in Ausdrucksmalen in Deutschland und in der Schweiz aus.

 

 

Abb. 4: Geisterbahn (Soran, 10 Jahre)

Literatur

Egger, Bettina (Hg.) (2002): Faszination Malen. Basel: Zytglogge

Fotheringham, Laurence (2011): Trust the Process. Kümmertshausen

Lüchinger, Thomas (2005): Intuitiv malen. Basel: Zytglogge

Oaklander, Violet (2006): Verborgene Schätze heben. Wege in die innere Welt von Kindern und Jugendlichen. Stuttgart : Klett-Cotta

 

Stern, Arno (1998): Der Malort. Einsiedeln: Daimon Verlag

 

Studer, Christina (2003): Kinderwerkstatt Malen. Mit Kindern auf dem Weg der eigenen Bilder. Aarau/ München: AT Verlag

 

Walder, Elisabeth/Zschokke, Beatrice (2006): Sehreise. In Kindern Malfreude wecken. Bern: Verlag Haupt

Abb. 5: Die Häuser der Riesen (Ayyub, 10 Jahre)

"Komm mit ins Land der Farben!"

von Sylvia Seib, März 2018

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